Die Geister der Vorfahren

Es war der heißeste Tag des Jahres. Die Ziegen machten keine Anstalten, sich zu bewegen, die Vögel saßen faul in den Baumwipfeln, und die Luft flirrte vor Hitze. Selbst die Fliegen schienen träger als sonst zu sein, aber Wagambi verschwendete keine Kraft darauf, nach ihnen zu schlagen, als sie den Schweiß von seiner Haut saugten.

Die älteren Jungen hatten sich im Schatten des mächtigen Baobab versammelt, aber auch sie vermieden die Anstrengung des Redens. Nur Dembi, der Älteste der Jungen, schlug hin und wieder auf seine neue Trommel. Es fehlte die Begeisterung, die er sonst an den Tag legte, aber für schnelleres Trommeln war es zu heiß.

Wagambi war der jüngste Ziegenhirte des Dorfs und hatte deswegen den schlechtesten Platz abbekommen. Er saß ein gutes Stück abseits von den anderen Jungen im spärlichen Schatten eines dürren Dornstrauchs. Es war kaum vorstellbar, dass irgendein Raubtier bei dieser Hitze den Ziegen nachstellen würde, aber er hatte trotzdem ein paar Steine bereitgelegt, um es notfalls vertreiben zu können. Es war nicht besonders aufregend, den Ziegen beim Dösen zuzusehen, aber es gab genug andere interessante Dinge zu sehen, ohne dass man sich bewegen musste. Eine Schlangenspur zog sich durch den Sand, eine kleine Echse saß auf einem Steinbrocken, und einige Hummeln flogen in ein kleines Erdloch ein.

Wagambi musste an Pater Savié denken, der in der Trockenzeit auch in einem Erdloch wohnte. Dort war es kühler als in den Hütten, und Wagambi hatte den Pater gerne besucht, bevor er alt genug war, um Ziegen zu hüten. In der Regenzeit zog der Pater allerdings in den Vorraum des kleinen Tempels, den er für seinen Gott gebaut hatte. Die Sache mit den Göttern verstand Wagambi immer noch nicht: nach dem Beschreibungen des Paters waren sie so ähnlich wie Totemtiere, und Menschen konnten an ihrer Macht teilhaben. Dafür verlangten sie von den Menschen seltsame Dinge, und scheinbar kämpften die Anhänger unterschiedlicher Götter gegeneinander. Totemtiere ließen Menschen ebenfalls an ihrer Macht teilhaben, aber sie forderten nicht, andere Menschen zu bekämpfen, die zufällig ein anderes Totemtier hatten. So hatte es Isso, der Schamane, jedenfalls gesagt, und Isso wusste mehr als Pater Savié, jedenfalls über die wirklich wichtigen Dinge wie Tiere, Jagd und Wetter. Aber der Pater konnte besser Geschichten erzählen.

Es würde aber noch einige Jahre dauern, bis Wagambi sein Totemtier finden würde. Inzwischen war es viel interessanter, über das etwas größere Erdloch nachzudenken, das sich einen Steinwurf hinter dem Hummelbau an der Seite eines kleinen Hügels befand. Es sah dunkel aus, und Wagambi vermutete, dass es drinnen angenehm kühl sein könnte. Bestimmt wohnte darin ein Tier, aber was für eines? Wagambi konzentrierte sich erst auf die Beobachtung des Lochs, dann stellte er sich vor, er wäre eine Ratte, die das Loch erkundet. Es ist kühl und erst dunkel, aber nach kurzer Anpassung sieht er in der Ferne einen hellen Fleck. Er läuft an ein paar angenagten Wurzeln vorbei und sieht, dass es einen weiteren Eingang in dieses Erdloch gibt, durch den Licht einfällt. Hinter einem großen Stein leuchtet es nur ganz schwach, aber seltsam grünlich, und er begibt sich näher heran. Als er um den Stein herumschaut, sieht er einen großen Hohlraum zwischen mächtigen Baumwurzeln, zwischen denen einige Schemen herumlaufen, die grünlich wie Glühwürmchen leuchten. Solche Wesen hat er noch nie gesehen, aber sie wirken nicht bedrohlich, und er beobachtet sie weiter.

Eines der Wesen kommt auf ihn zu und spricht ihn an. „Bist Du das erste Mal hier? Ich habe Dich hier noch nie gesehen.“ Die Sprache ist seltsam: sie scheint direkt in Wagambis Ohr zu entstehen, aber er versteht jedes Wort, nicht, wie wenn Pater Savié mit seinem Gott Latein spricht. Wagambi spricht einfach: „Ich bin Wagambi, der Sohn von Nurun und Karegi. Wer bist Du?“ Das Wesen sagt: „Wagambi also. Es ist schön, Dich kennenzulernen. Isso hat von Dir gesprochen. Du kennst mich nicht, aber ich gehöre zu denen, die Dein Dorf einmal bewohnt haben. Mein Name war Diobi, aber die meisten von uns haben ihre Namen vergessen. Zeit und Namen haben hier unten wenig Bedeutung.“

„Wieso hat Isso mit Dir über mich gesprochen?“ fragt Wagambi. „Isso war mein Schüler.“ anwortet Diobi. „Als ich einen Nachfolger brauchte, habe ich Isso ausgewählt. Er hat mir aber nicht gesagt, dass er Dich als Lehrling aufgenommen hat.“ „Das hat er nicht.“ antwortet Wagambi. „Ich bin Ziegenhirte, und ich werde Jäger, wenn ich groß bin.“ „Du hast den Weg hierher gefunden, obwohl Du Ziegenhirte bist?“ fragt Diobi überrascht. Dann schaut er in die Ferne und sagt: „Wagambi, ich würde Dich gerne den anderen Vorfahren vorstellen, aber Du musst ganz schnell zurück. Ein Schakal hat eine deiner Ziegen erwischt.“ Wagambi schrickt zusammen, reisst die Augen weit auf, und sieht, wie ein Schakal an einer Ziege herumzerrt. Die anderen Ziegen waren fortgelaufen, und Wagambi begann zu rufen und Steine nach dem Schakal zu werfen. Dembi und ein paar andere der größeren Jungen kamen herbeigelaufen, brüllten mit, und der Schakal ergriff die Flucht. Für die Ziege war es zu spät.

„Auch wenn es noch so heiß ist, Du musst wachsam bleiben. Du darfst nicht einschlafen.“ sagte Dembi mahnend. „Ich habe nicht geschlafen.“ sagte Wagambi, aber dann fragte er sich, ob das wahr war. Die Reise in das Erdloch schien wie ein seltsamer Traum, und er beschloss, nichts davon zu erzählen. „Wir werden uns morgen anders aufteilen. Wenn keiner mehr allein ist, passiert es hoffentlich nicht, dass jemand einschläft.“ beschloss Dembi. „Falls der Kleine morgen überhaupt noch Ziegen hüten kann.“ warf ein anderer Junge ein. „Bestimmt wird sein Vater ihn verprügeln, weil er nicht aufgepasst hat.“

Abends, als die Hitze nachgelassen hatte, sprach Isso mit Wagambis Eltern, und sie einigten sich darauf, dass Wagambi Issos Schüler werden würde. Wagambi erfuhr davon allerdings erst später, und noch viel später fand er heraus, dass die Geister der Vorfahren wirklich unter dem großen Baobab wohnten und dass er nicht geträumt, sondern mit Unterstützung der Hitze und fokussiert durch Dembis gleichförmiges Trommeln seinen ersten Schamanenzauber gewirkt hatte. Ein Heilzauber wäre ihm am Abend diesen heißen Tages lieber gewesen, denn der andere Junge hatte Recht behalten.